BEWEGEN

Menschen und Objekte in Bewegung

Wie europäisch ist die Sammlung eines „Heimatmuseums“?

Heimatmuseen sind beschränkt: auf das Lokale, Überschaubare und Beschauliche. Die große weite Welt sucht man in ihnen vergebens. Diese Vorstellung begegnet einem regelmäßig, wenn man sich als Leiter eines solchen Museums zu erkennen gibt. Doch ein genauerer Blick in die Sammlung zeigt: zahlreiche Dinge erzählen Geschichten von Menschen und Objekten in Bewegung. Sechs Beispiele aus dem Heimatmuseum Günzburg eröffnen die Vielfalt an europäischen Verflechtungen einer Kleinstadt, von der Antike bis in die Gegenwart.

Bürger machen Europa: Blick durch die Europa-Brille

Der Anstoß kam zunächst von außen. Im Jahr 2021, inzwischen verschoben auf Sommer 2022, begeht die Stadt Günzburg in Bayerisch-Schwaben die Jubiläen ihrer beiden Städtepartnerschaften. Seit 1981 besteht eine solche mit Lannion in der Bretagne, seit 2011 mit Sternberk in Tschechien. Als städtisches Museum beteiligen wir uns mit einer Ausstellung am Festprogramm. Unter dem Titel „Bürger machen Europa“ sammeln wir individuelle Europa-Geschichten von Bürgerinnen und Bürgern. Bei der Vorbereitung der Ausstellung kam schnell die Frage auf: Wie viel Europa steckt denn in der bestehenden Sammlung unseres Museums?

Römische Antike: Englische Fibeln in Süddeutschland

Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus errichteten die Römer ein Militärkastell an der Mündung der Günz in die Donau. Dabei dachten sie vermutlich nicht daran, dass ihre letzten Ruhestätten irgendwann einmal das Interesse der Wissenschaft erregen würden. Mit über 1800 Bestattungen ist das römische Gräberfeld von Günzburg das größte zusammenhängend ergrabene nördlich der Alpen. Jedes Grab mit Asche und Grabbeigaben steht für eine einzelne Person und sagt gleichzeitig etwas über die Herkunft der Bevölkerung im antiken Günzburg aus. Bereits bekannt war, dass Wein und Olivenöl aus Spanien und Südfrankreich im römischen Gontia – so hieß Günzburg damals – verzehrt wurden. Nun rückten weitere, bislang unscheinbare Objekte in den Fokus. Die abgebildete Fibel aus Grab Nr. 1681 wurde ihrer Form und Verzierung nach in Britannien hergestellt und war in Süddeutschland überhaupt nicht geläufig.

Stammte ihr/e Besitzer/in von dort? Handelte es sich um ein wertvolles Geschenk oder eine Erinnerung an einen Aufenthalt in der Provinz Britannien? Wir wissen es nicht, sehen aber, wie Günzburg in das römische Weltreich eingebunden war: Waren, Menschen und Wissen zirkulierten durch das gesamte Reich und darüber hinaus. Austausch und Kommunikation waren essentiell für die Verwaltung und schlugen sich auch im Alltag der Menschen nieder.

Günzburg unter habsburgischer Herrschaft: wieder ein Großreich

Etwas über 500 Jahre, von 1301 bis 1805 gehörte die Stadt Günzburg mit der sie umgebenden Markgrafschaft Burgau zum Herrschaftsgebiet der Habsburger. Wieder zeigt sich, dass prägende Entwicklungen ohne Bewegung und Austausch von Menschen und Wissen nicht vorstellbar gewesen wären. Das Günzburger Schloss etwa erbaute der aus dem Tessin stammende Renaissancebaumeister Alberto Lucchese. Wichtiger für die Menschen vor Ort war jedoch das Vermächtnis des hier abgebildeten Mannes: José Calasanz (1556–1648) gründete 1617 in Rom den Orden der Piaristen.

Dieser widmete sich der Schulbildung für Jungen und breitete sich vor allem im Habsburgerreich aus. Im Jahr 1750 entstand auch in Günzburg eine Niederlassung. Das eigens dafür errichtete Schulgebäude beherbergt heute übrigens das Museum. Professionelles Personal erteilte nun kostenlosen Unterricht mit modernen Inhalten und Methoden. Dank eines einheitlichen Lehrplans konnten die Lehrer problemlos zwischen den einzelnen Schulen des Ordens wechseln. Umgekehrt nutzten nicht wenige Jungen aus der Region die Aufstiegsmöglichkeiten, die das Kolleg vor ihrer Haustür bot. Johann Siegfried Wiser etwa kam 1752 in Günzburg zur Welt und besuchte das Piaristenkolleg, bevor er in Wien dem Orden beitrat und es dort bis zum Professor der Pastoraltheologie brachte.

Kriege: Erzwungene Bewegung

Einer der schrecklichsten und leider bis heute häufigsten Gründe für die Bewegung von Menschen und Dingen ist der Krieg. Während der Neuzeit litt Günzburg bei allen europäischen Kriegen mit: durch hohe Zahlungen an die österreichische Kriegskasse, vor allem aber unter durchziehenden Armeen. Im dreißigjährigen Krieg besetzten schwedische Truppen die Stadt, im spanischen Erbfolgekrieg französische Regimenter und in den napoleonischen Kriegen kämpften Österreicher und Franzosen um die Donaubrücke bei Günzburg.

In den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts schließlich war jeder betroffen: Keine Familie, die nicht mindestens ein Todesopfer zu beklagen hatte. Millionen von Menschen kamen – meist alles andere als freiwillig – an Orte, an denen sie nie zuvor gewesen waren, ob als Soldaten, Gefangene, Zwangsarbeiter oder Flüchtlinge. Franz Keller, Sohn eines Günzburger Uhrmachers und später Grundschulrektor in seiner Heimatstadt, hatte Glück im Unglück. Er meldete sich als Student im August 1914 freiwillig zum Kriegsdienst und kämpfte an der Westfront in Belgien. Nach einem Angriff geriet er am 9. Mai 1915 in englische Kriegsgefangenschaft und verbrachte den Krieg in relativer Sicherheit im Gefangenenlager Handforth. Im Herbst 1919 kehrte er nach Günzburg zurück.

Seine Lebenserinnerungen, Feldpostkarten und zahlreiche Fotografien liegen im Stadtarchiv Günzburg. Sie zeigen eine vergleichsweise harmlose Seite des Ersten Weltkriegs. Dennoch stehen sie für die erzwungenen „Auslandserfahrungen“, die Millionen von Soldaten in den Weltkriegen machten.

Mode und Reisen: Internationalisierung im Alltag

Demgegenüber stehen europäische Vernetzungen im Alltag und Privatleben. Die grenzüberschreitende Kraft von Modetrends etwa lässt sich bestens an den im 19. Jahrhundert immer häufiger werdenden Porträtgemälden ablesen. So tragen die schwäbischen Mädchen auf diesem wunderbaren Familienporträt Kleider im reinsten französischen Empire-Stil.

Standesbewusstsein spricht auch aus den Reisefotografien der Günzburger Kaufmannsfamilie Frick. Die Fahrten im eigenen VW-Käfer wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zeugen von Wohlstand. Sie führen uns aber auch ein spezifisches Europa-Bild der Reisenden vor Augen, die – vielleicht, um mitreden zu können – klassische Ziele des frühen Tourismus wie St. Moritz, Lugano und Monaco ansteuerten.

 

Globalisierte Wirtschaft im 20. Jahrhundert

Ein noch ungeschriebenes Kapitel der Geschichte Günzburgs ist dasjenige zur Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit. Die sogenannten Gastarbeiter und ihre Familien trugen vieles zum Wirtschaftsaufschwung in den 1960er und 1970er Jahren bei und vergrößerten die kulturelle Vielfalt der Kleinstadt. Eine besonders anschauliche Quelle für die zunehmend globalisierte Wirtschaft in der Nachkriegszeit liegt im Günzburger Stadtarchiv: die Gästebücher der Landmaschinenfabrik Mengele aus der Zeit zwischen 1952 und 1989. In ihnen haben sich Besuchergruppen aus beinahe allen europäischen Ländern, aber auch aus den USA und Südafrika verewigt. Die Alben dokumentieren nicht nur, wie die Firma ihren Aktionsradius sukzessive ausweitete, bevor sie gegen Ende der 1980er Jahre in die Krise geriet. Sie stehen auch für die internationalen Erfahrungen, die die Mitarbeiter des Unternehmens dabei machten.

Einen weiteren Internationalisierungsschub bedeutete die Eröffnung des LEGOLAND-Freizeitparks im Mai 2002. Der Weltkonzern LEGO gab Günzburg dabei gegenüber einem Standort bei Tokio den Vorzug. Festzuhalten, wie die Besucher und Saisonarbeitskräfte die Stadt und Region verändern, ist eine Aufgabe unseres Museums für die Zukunft.

Klar ist auf jeden Fall: Mögen unsere Ausstellungsstücke auch im Museum hängen oder stehen, so zeugen sie doch von bewegten Zeiten, bewegenden Geschichten und Menschen in Bewegung.

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